In der vergangenen Nacht starb der langjährige liberale Außenminister und FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher im Alter von 89 Jahren. Der Verstorbene gehörte zu den beliebtesten Politikern in Deutschland, auch wenn dies zu seinen aktiven Zeiten nicht immer der Fall war. Gefühlt war sein Ansehen vielleicht immer höher als das seiner Partei.
FDP-Chef Christian Linder schrieb heute in einem Tweet: „Unsere Trauer kann nicht größer sein.“ Für die deutschen Liberalen sind diese Wochen tatsächlich von Trauer geprägt: Nach dem Tode Guido Westerwelles, der morgen in Köln beigesetzt wird, erfuhr die deutsche Öffentlichkeit heute Mittag vom Ableben Genschers, einer liberalen Ikone. Der Tod beider FDP-Politiker ist für die Partei im Moment von einer besonderen Tragik, beides macht mich sehr traurig.
Genscher, 1927 in der Nähe von Halle/Saale geboren und 1952 aus der DDR geflohen, machte in der (alten) Bundesrepublik eine außerordentlich erfolgreiche politische Karriere. Genscher, den ich persönlich in einer Reihe der großen liberalen deutschen Außenminister Walter Rathenau und Gustav Stresemann sehe, war (neben Helmut Schmidt) wohl der personifizierte Grund, weshalb ich mich schon als Teenager überhaupt für Politik, insbesondere für Europa- und internationale Politik interessiert habe. Durch viele Interviews und TV-Gespräche habe ich rückblickend sehr viel von dieser herausragenden Persönlichkeit gelernt.
Ich habe leider kein persönliches Foto gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher, aber ich erinnere mich sehr gut an zwei persönliche Begegnungen im Jahre 2013: Am 18. Januar 2013 war Genscher im Rahmen des Landtagswahlkampf in Hannover (Link: http://www.trotzdem-politik.de/hans-dietrich-genscher-in-hannover/) und ich hatte die große Ehre, ihm die Hand geben zu können. Nur wenige Wochen später, auf der Feier zum 40. Geburtstag von Philipp Rösler am 26.02.2013 in Berlin, kam er in der Vorhalle auf mich zu und gab mir die Hand, was mich natürlich ganz besonders gefreut hat und ich bis heute in besonderer Erinnerung halte. In seiner aktiven Zeit als Bundesaußenminister habe ich ihn in den Jahren zuvor einige Male gesehen, beispielsweise auf dem EG-Gipfel 1988 in Hannover, später am Rande von Bundesparteitagen oder auf Dreikönigs-Treffen in Stuttgart.
Hans-Dietrich Genscher war ein beeindruckender Brückenbauer, ein Diplomat par excellence, ein Entspannungspolitiker („Genschman“), ein großer Deutscher, ein großer Europäer. Was hier nach schönen Worten klingt, hatte für mich einen ganz realen Hintergrund: Genscher stammte aus Sachsen-Anhalt, wohin wir auch familiäre Verbindungen hatten, und er war in der DDR Mitglied der LDPD gewesen. Genscher war unbestritten ein wesentlicher Architekt der Deutsche Einheit (2+4-Vertrag), dem das Zusammenwachsen beider deutscher Staaten ein wichtiges Anliegen war, ebenso aber auch ein gutes Verhältnis zu allen Nachbarn („Es kommt nicht darauf an, Grenzen zu verschieben, sondern sie durchlässiger zu machen.“) Jeder der damaligen Zeitzeugen erinnert sich an die berühmten Sätze in der Prager Botschaft („Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“).
Genscher war für mich ein Liberaler „ohne Bindestrich“ („Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form von Unfreiheit“), dem die Europäische Einheit wichtig war und der realistisch war („Der deutsch-französische Schulterschluss ist Herzstück des europäischen Fortschritts“). Ein Politiker mit Augenmaß, der kleinen Staaten ebenso viel Aufmerksamkeit schenkte wie den großen. Er widmete sich als Außenminister der Verständigung mit Russland (zuvor Sowjetunion) sowie zu allen europäischen Staaten. Genscher sprach damals oft vom gemeinsamen Europäischen Haus, eine Sicht, die aktuell auf vielen Politikfeldern vielleicht sehr hilfreich sein könnte. Schon früh sprach der engagierte Außenpolitiker von einer Weltnachbarschaft, die eine kooperative Weltordnung verlange. Was vor vielen Jahren noch sehr theoretisch klang, zeigt sich heute immer deutlicher als Notwendigkeit.
Mit Hans-Dietrich Genscher ist nun eine weitere wichtige Persönlichkeit gestorben, die zum Inventar der Bonner, der alten Bundesrepublik gehörte. Ich selber habe noch immer einen gelben Pullover im Schrank, den mir ganz bewusst vor dem Hintergrund Genschers und meiner Mitgliedschaft in der FDP meine verstorbene Weissleder-Großmutter Hannelore vor vielen Jahren geschenkt hat. Verrückt, nicht wahr?